Sebastian – Wenn das zurückgewiesene innere Kind heimkehrt

8/14/20253 min read

Sebastian – Wenn das zurückgewiesene innere Kind heimkehrt

Sebastian wuchs in einem zerrütteten Elternhaus auf. Schon früh wurde er mit Schuld beladen, als ihm die Mutter – er war gerade drei Jahre alt – erklärte, er sei der Grund für ihr Elend: „Wegen dir musste ich heiraten.“ Wiederholt ließ sie ihn spüren, dass er unerwünscht war. Wenn er etwas tat, das ihr missfiel, strafte sie ihn mit Schweigen. Der Vater war viel unterwegs, und wenn er zu Hause war, gab es oft lautstarke Auseinandersetzungen. Mit fünf trennten sich die Eltern, die Mutter entschied sich für einen anderen Mann.

Sebastians Rettung in dieser Zeit war seine Großmutter. Sie spielte mit ihm, nahm sich Zeit, schaute mit ihm Bilderbücher. Vor allem bei Fotoalben verweilte er stundenlang. Es waren die kostbarsten Jahre seiner Kindheit – von Liebe, Nähe und Verlässlichkeit geprägt. Doch als Sebastian acht war, wurde die Großmutter schwer krank. Er kümmerte sich aufopfernd um sie, bis sie knapp ein Jahr später verstarb. Ihr Tod erschütterte ihn tief – es war, als ob ein Teil mit ihr gegangen sei.

Kurz danach trat eine neue Frau in das Leben des Vaters. Anfangs verstand sich Sebastian gut mit ihr. Doch in der Zeit, als der Vater oft abwesend war, begann sich die Beziehung zur Stiefmutter zu verändern. Zunächst waren es scheinbar harmlose Zärtlichkeiten, doch allmählich überschritten ihre Berührungen Grenzen. Sebastian, damals etwa zwölf Jahre alt, spürte intuitiv, dass hier etwas nicht stimmte. Doch die Stiefmutter rechtfertigte ihr Verhalten als „Fürsorge“ und „Aufklärung“ und verpflichtete ihn zum Schweigen. Jahre des inneren Zwiespalts folgten – geprägt von Scham, Verwirrung und dem wachsenden Gefühl, falsch zu sein.

Mit 16 trennte sich der Vater von der Stiefmutter. Für Sebastian begann eine Phase der Isolation. Er litt unter Akne, entwickelte ein negatives Körperbild, seine schulischen Leistungen sanken. Der Vater bemerkte die Veränderung und suchte professionelle Hilfe. In der folgenden Therapie konnte Sebastian den sexuellen Missbrauch offenlegen und erste Schritte zur Stabilisierung machen. Er absolvierte eine Ausbildung zum Raumausstatter – sein eigentliches Berufsziel, Fotograf zu werden, schien unerreichbar. Die inneren Zweifel waren zu groß.

Mit Anfang 40 holte ihn eine tiefe Depression ein, begleitet von Lebensüberdruss und dem Gefühl, im Leben versagt zu haben. In der gemeinsamen Arbeit wurde bald klar: Sebastian hatte die Ablehnung seiner Mutter verinnerlicht und gegen sich selbst gerichtet. Die Phase mit Akne als Jugendlicher brachte den Selbsthass an die Oberfläche. Der Satz „Ich verdiene es nicht zu leben“ und „Ich verdiene es, abgelehnt zu werden“ schwang als unbewusste Überzeugung in ihm mit. In einem starken Ablösungsritual durfte er dieser Dynamik eine neue Wahrheit entgegensetzen:

„Nach dem Willen meiner Mutter hätte es mich nicht geben sollen.
Aber es gibt einen Willen, der größer ist als ihrer:
Ich bin hier, weil ich mich selbst gewollt habe.“

Die Ablösung von der Fremdenergie der Mutter in Verbindung mit der Vergebung für den Selbsthass wurde zum Wendepunkt. Es war, als ob ein dunkler Schatten von ihm wich. Seine Gefühlslage hellte sich auf. In der Folge konnte er auch den Verlust der Großmutter betrauern – und jenes innere Kind wieder in sein Leben lassen, das einst mit ihr gestorben war. Die depressive Stimmungslage war verflogen.

Mit dem inneren Kind kehrte auch eine Seelenkraft zurück: ein intuitives Gespür für Menschen, das sich in der Fotografie Ausdruck verschaffen wollte. In der Arbeit mit Licht und Schatten, Perspektive und Komposition entdeckte Sebastian eine feine Wahrnehmung für das, was im Verborgenen liegt. Er begann zu erkennen, dass seine Bilder etwas sichtbar machen konnten, was die Menschen oft selbst nicht kannten: ihre Würde, ihr inneres Licht, ihre heimliche Stärke.

Der sexuelle Missbrauch war bereits durch die frühere Therapie weitgehend verarbeitet – nur noch Spuren von Schuld und Scham blieben, die nun integriert werden konnten.

Am Ende unserer Zusammenarbeit fasste Sebastian den Entschluss, seiner Berufung zu folgen – nicht als radikaler Bruch, sondern als achtsamer Neubeginn: Er begann, nebenberuflich Porträtfotografie anzubieten, mit dem Ziel, das innere Wesen der Menschen im Bild durchscheinen zu lassen. „Ich möchte, dass die Menschen sich selbst mehr annehmen können, wenn sie ihr Porträt betrachten“, sagte er. Eine Gabe hatte sich erinnert, ein Weg hatte sich geöffnet. Er konnte durch die Annahme seiner schwierigen Kindheit neue Kraft schöpfen – auch für andere.